Wahrheit, Verkündigung und Authentizität des Lebens im digitalen Zeitalter
Liebe Brüder und Schwestern!
Aus Anlaß des 45. Welttags der Sozialen Kommunikationsmittel möchte ich einige Überlegungen vorlegen, die ihren Grund in einem charakteristischen Phänomen unserer Zeit haben: die Verbreitung der Kommunikation durch das Internet. Allgemein ist man immer mehr der Auffassung, daß heute die gerade stattfindende grundlegende Umwandlung im Kommunikationsbereich – so wie einst die industrielle Revolution durch die Neuerungen im Produktionszyklus und im Leben der Arbeiter einen tiefgreifenden Wandel in der Gesellschaft hervorrief – richtungweisend ist für große kulturelle und soziale Veränderungen. Die neuen Technologien ändern nicht nur die Art und Weise, wie man miteinander kommuniziert, sondern die Kommunikation an sich; man kann daher sagen, daß wir vor einem umfassenden kulturellen Wandel stehen. Mit dieser neuen Weise, Information und Wissen zu verbreiten, entsteht eine neue Lern- und Denkweise mit neuartigen Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen und Gemeinschaft zu schaffen.
Es zeichnen sich Ziele ab, die bis vor kurzem undenkbar waren, die aufgrund der von den neuen Medien eröffneten Möglichkeiten Staunen hervorrufen und zugleich immer dringlicher eine ernsthafte Reflexion über den Sinn der Kommunikation im digitalen Zeitalter verlangen. Das ist besonders ersichtlich, wenn man das außergewöhnliche Potential des Internets und die Vielschichtigkeit seiner Anwendungen bedenkt. Wie alle anderen Schöpfungen des menschlichen Geistes müssen die neuen Kommunikationstechnologien in den Dienst des ganzheitlichen Wohls des Menschen und der gesamten Menschheit gestellt werden. Wenn sie vernünftig genutzt werden, können sie dazu beitragen, das Verlangen nach Sinn, nach Wahrheit und nach Einheit zu stillen, das die tiefste Sehnsucht des Menschen bleibt.
In der digitalen Welt heißt Informationen zu übermitteln immer öfter, sie in ein soziales Netzwerk zu stellen, wo das Wissen im Bereich persönlichen Austauschs mitgeteilt wird. Die klare Unterscheidung zwischen Produzent und Konsument von Information wird relativiert, und die Kommunikation möchte nicht nur Austausch von Daten sein, sondern immer mehr auch Teilhabe. Diese Dynamik hat zu einer neuen Bewertung des Miteinander-Kommunizierens beigetragen, das vor allem als Dialog, Austausch, Solidarität und Schaffung positiver Beziehungen gesehen wird. Dies stößt andererseits aber auf einige für die digitale Kommunikation typische Grenzen: die einseitige Interaktion; die Tendenz, das eigene Innenleben nur zum Teil mitzuteilen; die Gefahr, irgendwie das eigene Image konstruieren zu wollen, was zur Selbstgefälligkeit verleiten kann.
Vor allem die junge Generation erlebt gerade diesen Wandel der Kommunikation mit allen Wünschen, Widersprüchen und aller Kreativität, die denen eigen sind, die sich mit Begeisterung und Neugierde neuen Erfahrungen des Lebens öffnen. Die immer größere Beteiligung in der öffentlichen digitalen Arena, die von den sogenannten social networks gebildet wird, führt dazu, neue Formen interpersonaler Beziehungen einzugehen, beeinflußt die Selbstwahrnehmung und stellt daher unvermeidlich nicht nur die Frage nach der Korrektheit des eigenen Handelns, sondern auch nach der Authentizität des eigenen Seins. In diesen virtuellen Räumen präsent zu sein kann Zeichen einer echten Suche nach persönlicher Begegnung mit dem anderen sein, wenn man darauf achtet, die vorhandenen Gefahren zu meiden, wie z. B. sich in eine Art Parallelwelt zu flüchten oder sich exzessiv der virtuellen Welt auszusetzen. Auf der Suche nach Mitteilung, nach „Freundschaften“, steht man vor der Herausforderung, authentisch und sich selbst treu zu sein, ohne der Illusion zu erliegen, künstlich das eigene öffentliche „Profil“ zu schaffen.
Die neuen Technologien gestatten den Menschen, sich jenseits der Grenzen von Raum und Kultur zu begegnen und so eine ganze neue Welt potentieller Freundschaften zu schaffen. Das ist eine große Chance, bedingt aber auch eine größere Aufmerksamkeit und eine Bewußtwerdung möglicher Risiken. Wer ist mein „Nächster“ in dieser neuen Welt? Besteht die Gefahr, weniger für die da zu sein, denen wir in unserem normalen täglichen Leben begegnen? Besteht die Gefahr, zunehmend abgelenkt zu sein, weil unsere Aufmerksamkeit gespalten ist und von einer Welt in Anspruch genommen wird, die „anders“ ist als die, in der wir leben? Haben wir Zeit, kritisch über unsere Entscheidungen nachzudenken und menschliche Beziehungen zu pflegen, die wirklich tief und dauerhaft sind? Es ist wichtig, sich immer daran zu erinnern, daß der virtuelle Kontakt den direkten persönlichen Kontakt mit den Menschen auf allen Ebenen unseres Lebens nicht ersetzen kann und darf.
Auch im digitalen Zeitalter ist es für jeden erforderlich, ein authentischer und nachdenkender Mensch zu sein. Im übrigen zeigt die den social networks eigene Dynamik, daß ein Mensch immer in das, was er mitteilt, miteinbezogen ist. Beim Austausch von Informationen teilen Menschen bereits sich selbst mit, ihre Sicht der Welt, ihre Hoffnungen, ihre Ideale. Daraus folgt, daß es einen christlichen Stil der Präsenz auch in der digitalen Welt gibt: Dieser verwirklicht sich in einer Form aufrichtiger und offener, verantwortungsvoller und dem anderen gegenüber respektvoller Kommunikation. Das Evangelium durch die neuen Medien mitzuteilen bedeutet nicht nur, ausgesprochen religiöse Inhalte auf die Plattformen der verschiedenen Medien zu setzen, sondern auch im eigenen digitalen Profil und Kommunikationsstil konsequent Zeugnis abzulegen hinsichtlich Entscheidungen, Präferenzen und Urteilen, die zutiefst mit dem Evangelium übereinstimmen, auch wenn nicht explizit davon gesprochen wird. Im übrigen kann es auch in der digitalen Welt keine Verkündigung einer Botschaft geben ohne konsequentes Zeugnis dessen, der verkündigt. In den neuen Kontexten und mit den neuen Ausdrucksformen ist der Christ wiederum aufgerufen, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die ihn erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).
Der Einsatz zugunsten eines Zeugnisses für das Evangelium im digitalen Zeitalter erfordert, daß alle besonders auf jene Aspekte dieser Botschaft achten, die eine Herausforderung an einige der für das Web typischen Sachgesetzlichkeiten darstellen können. Vor allem müssen wir uns bewußt sein, daß die Wahrheit, die wir mitzuteilen suchen, ihren Wert nicht aus ihrer „Popularität“ oder aus dem Maß der ihr gezollten Aufmerksamkeit bezieht. Wir müssen sie in ihrer Vollständigkeit nahebringen, anstatt den Versuch zu unternehmen, sie akzeptabel zu machen und sie dabei vielleicht sogar zu verwässern. Sie muß zur täglichen Nahrung werden und nicht Attraktion eines Augenblicks. Die Wahrheit des Evangeliums ist kein Objekt, das man konsumieren oder oberflächlich in Anspruch nehmen kann; sie ist ein Geschenk, das eine Antwort in Freiheit verlangt. Auch wenn sie im virtuellen Raum des Internet verkündet wird, muß sie immer in der wirklichen Welt und in Beziehung zu den konkreten Gesichtern der Brüder und Schwestern, mit denen wir das tägliche Leben teilen, Gestalt annehmen. Deshalb bleiben in der Weitergabe des Glaubens die direkten menschlichen Beziehungen immer fundamental!
Ich möchte jedenfalls die Christen dazu einladen, sich zuversichtlich und mit verantwortungsbewußter Kreativität im Netz der Beziehungen zusammenzufinden, das das digitale Zeitalter möglich gemacht hat. Nicht bloß um den Wunsch zu stillen, präsent zu sein, sondern weil dieses Netz wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens ist. Das Web trägt zur Entwicklung von neuen und komplexeren Formen intellektuellen und spirituellen Bewußtseins sowie eines allgemeinen Wissens bei. Auch in diesem Bereich sind wir aufgerufen, unseren Glauben zu verkünden, daß Christus Gott ist, der Erlöser des Menschen und der Geschichte, in dem alle Dinge ihre Erfüllung finden (vgl. Eph 1,10). Die Verkündung des Evangeliums verlangt eine respektvolle und unaufdringliche Form der Mitteilung, die das Herz anrührt und das Gewissen bewegt; eine Form, die an den Stil des auferstandenen Jesus erinnert, als er sich zum Weggefährten der Jünger von Emmaus machte (vgl. Lk 24,13-35), die er schrittweise zum Verständnis des Geheimnisses führte durch seine Nähe, durch sein Gespräch mit ihnen und dadurch, daß er feinfühlig sichtbar werden ließ, was in ihren Herzen war.
Die Wahrheit, die Christus ist, ist letztlich die vollständige und wirkliche Antwort auf jenes menschliche Verlangen nach Beziehung, nach Gemeinschaft und Sinn, das auch in der großen Beteiligung an den verschiedenen social networks deutlich wird. Wenn die Gläubigen für ihre tiefsten Überzeugungen eintreten, leisten sie einen wertvollen Beitrag dazu, daß das Web nicht ein Instrument wird, das die Menschen zu Kategorien macht und sie emotional zu manipulieren sucht oder das es denen, die Einfluß haben, ermöglicht, die Meinungen anderer zu monopolisieren. Im Gegenteil, die Gläubigen sollen alle ermutigen, die bleibenden Fragen des Menschen aufrecht zu erhalten, die von seinem Verlangen nach Transzendenz zeugen und von seiner Sehnsucht nach Formen wirklichen Lebens, das wert ist, gelebt zu werden. Gerade diese zutiefst menschliche geistliche Spannung liegt unserem Durst nach Wahrheit und Gemeinschaft zugrunde und drängt uns dazu, rechtschaffen und aufrichtig miteinander zu kommunizieren.
Ich lade vor allem die Jugendlichen ein, von ihrer Präsenz in der digitalen Welt guten Gebrauch zu machen. Ich bestätige ihnen unsere Verabredung beim nächsten Weltjugendtag in Madrid, dessen Vorbereitung den Vorzügen der neuen Technologien viel verdankt. Auf die Fürsprache ihres Schutzpatrons, des heiligen Franz von Sales, bitte ich Gott für die im Kommunikationsbereich Tätigen um die Fähigkeit, ihre Arbeit stets mit großer Gewissenhaftigkeit und sorgfältiger Professionalität zu verrichten, und erteile allen meinen Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, am 24. Januar 2011, dem Gedenktag des heiligen Franz von Sales
BENEDICTUS PP. XVI